Հայոց ցեղասպանություն

Enver Pasha salutiert Kaiser Wilhelm II. zur Begrüßung, Konstantinopel, 15. Oktober 1917.
Bild: Imperial War Museums, UK

Hans von Wangenheim, der deutsche Botschafter in Konstantinopel, schreibt am 7. Juli 1915 an Reichskanzler Bethmann Hollweg über die Ziele der jungtürkischen Regierung, sie verfolge nach seiner Kenntnis der Dinge „tatsächlich den Zweck (…), die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten.“[1] Das war eine klare Aussage, und sie zeigt, dass die Reichsregierung schon früh wusste, dass sich hier ein Völkermord vollzog. Eine Anfrage Karl Liebknechts im Reichstag im Januar 1916 über die „Ausrottung der türkischen Armenier“[2] blieb wegen der Kriegsbündnispartnerschaft zwischen dem Deutschen und Osmanischen Reich folgenlos. Die wichtigste Debatte in einem deutschen Parlament fand allerdings erst hundert Jahre später statt: 2016 verabschiedete der Deutsche Bundestag nach langen Vorläufen eine Resolution, in der die Verbrechen an den Armeniern im Osmanischen Reich eindeutig und unmissverständlich als „Völkermord“ bezeichnet werden.[3] In der historischen Forschung wird der Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich als „Prototyp der Genozide des 20. Jahrhunderts“ charakterisiert.[4]

Im Ersten Weltkrieg wurde eine nationalistisch-rassistische Bevölkerungspolitik unter der Ein-Parteien-Diktatur des jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ [5] umgesetzt, die über eine Million Opfer forderte. Aufgrund der anhaltenden staatlichen Leugnungspolitik der Republik der Türkei und ihrer wissenschaftlichen Einrichtungen war und ist die Vernichtung der Armenier immer wieder Gegenstand von revisionistischen Debatten. Ein Blick in die historische Forschung der letzten vier Jahrzehnte lässt jegliche Umdeutungsversuche jedoch souverän hinter sich. Historiografisch zeigt sich durch eine quellengestützte Ereignisgeschichtsforschung – ähnlich wie in der frühen Holocaust-Forschung – eine Verschiebung von einer stark intentionalen Interpretation des Genozids[6] zu der Erforschung einer kumulativen Radikalisierung der jungtürkischen Eliten.[7] Verengten erstere Ansätze stark auf ideologische Faktoren, wie beispielsweise die Rolle der Religion (türkische Muslime gegen armenische Christen), so erweitern zweitere die Sicht auf eine sich gegenseitig radikalisierende spätosmanische Gesellschaft, ihre Institutionen und Entscheidungsträger.

„Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“

Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg hinsichtlich der Haltung des Deutschen Kaiserreiches zur Massengewalt und den Vernichtungsplänen gegen die Armenier, Dezember 1915.

Jungtürkische Homogenisierungsfantasien

Als sich im Jahr 1908 im Osmanischen Reich durch eine Revolution ein politischer Machtwechsel abzeichnete, erschienen diese Tage „wie ein europäisches Wetterleuchten im Orient“ [8]. Durch die Einführung eines konstitutionellen Systems hoffte das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ den Niedergang des Osmanischen Reiches aufhalten zu können. Hervorgegangen aus der Unzufriedenheit mit der theokratischen Regierung des Sultans Abdul Hamids II., entstanden in den 1890er Jahren verschiedene, im Geheimen operierende Gruppen, die sich als politische Avantgarde gegen ein verkrustetes System sahen.[9] Was anfangs wie ein liberaler politischer Wechsel aussah, war de facto der Weg zu einer Ein-Parteien-Diktatur, die Gewalt als politisches Mittel auch in der Innenpolitik für legitim hielt. Damit stand im 20. Jahrhundert erstmals ein revolutionäres Komitee an der Spitze eines Großreichs.

Nach der Revolution lag die Macht offiziell beim Parlament, welches aber vom Komitee als eine Art „Nebenregierung“[10] kontrolliert wurde. Ab 1913 setzte sich der ultranationalistische Flügel des Komitees vollends mit einem Staatsstreich durch, und eine Melange aus türkischer Ethnisierung („Einheit“) und säkularer Modernisierung („Fortschritt“) sollte dem Osmanischen Reich zu neuer Größe verhelfen. Ethnisch-nationale Homogenisierungsfantasien und existentielle Bedrohungsszenarien beherrschten das Denken des Komitees. Dass die Minderheiten im Osmanischen Reich dabei als Gefahr für die innere Sicherheit angesehen wurden, zeigte sich bereits in den Reaktionen und Handlungsmustern während der Balkankriege 1912-1913. Militärische Niederlagen gegen eine Koalition der Balkan-Staaten hatten den Verlust der Gebiete Mazedonien, Epirus, Kosovo und West-Thrakien zur Folge. Hunderttausende Muslime flüchteten in das Osmanische Reich.[11] Das Komitee reagierte mit einer Verschränkung von Untergangsstimmung und politisch-ideologisch ausgerichteter gewaltsamer Bevölkerungspolitik gegen die griechische und bulgarische Bevölkerung der Ägäis-Küste und Thrakiens. Sie wurde vertrieben und ihr Besitz konfisziert.

Auch die armenische Bevölkerung in der Nähe der Ostgrenze geriet – nach einer langen Vorgeschichte von Verfolgung und Massakern – als möglicher Kollaborateur mit dem potenziellen Feind Russland in den Blick des Komitees. Die ursprünglich als politische Propaganda- und Guerillatruppe eingerichtete „Spezialorganisation“ (Teşkilat-ı Mahsusa)[12] wurde vorsorglich vergrößert und ein Hauptquartier im ostanatolischen Erzurum eingerichtet. Das heutige Ostanatolien war der geografische Raum, wo die meisten Armenier lebten. Das Komitee wollte so gegen jeden imaginierten, vermeintlichen „inneren Feind“ vorbereitet sein, der allerdings, analog zu einem Diktum Theodor W. Adornos über den Antisemitismus, nur als zum großen Teil bewusst produziertes Gerücht über die Armenier falsche Realität besaß. Dieses irreguläre politisch-militärische Kommando, das direkt dem Zentralkomitee des Komitees unterstellt war, spielte später eine tragende Rolle beim Genozid an den Armeniern.

Aus jeder größeren Ortschaft wurden vor Beginn der Deportation die angesehensten Männer - Intellektuelle, Ärzte, Anwälte, Kaufleute - unter Bewachung der Feldgendarmerie fortgeführt und an der nächsten abgelegenen Stelle erschlagen. Diese Aufnahme zeigt eine solche Gruppe aus der Stadt Charberd (türkisch Harput, heute Elaziğ) Anfang Mai 1915. (Quelle: Maria Jacobsen: Diary 1907-1919; Kharput-Turkey. Antelias 1979; vermutliche Erstveröffent-lichung in dem Buch der Dänin Amalie Lange: Et Blad af Armeniens Historie, Kvindelige Missions Arbejdere 1910-1920. [Eine Seite aus der Geschichte Armeniens: Die Mitarbeiterinnen der Frauenmission], Nr. 115).
Bild: wikipedia.org

Armenischer Reformplan

Die politischen Eliten der Armenier versuchten seit der Revolution ihre auf dem Berliner Kongress 1878 garantierten Minderheitenrechte zu sichern. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hatte der fortschreitende Zerfall des Osmanischen Reiches (Staatsbankrott 1875, Niederlage im Krieg gegen Russland 1877/78) zu einem erhöhten Interesse der europäischen Mächte und Russlands an der Entwicklung des Reiches geführt. Auf dem Berliner Kongress erfolgte die Aufnahme der Armenier in die europäische Staatenwelt, was unter ihnen zu großen Erwartungen führte. Das Osmanische Reich musste sich verpflichten, „ohne weiteren Zeitverlust die Verbesserungen und Reformen ins Leben zu rufen, welche die örtlichen Bedürfnisse in den von den Armeniern bewohnten Provinzen erfordern“.[13] Die Reformen wurden jedoch nie umgesetzt.

Sultan Abdul Hamid II. reagierte in den Jahren 1894-1896 mit Massakern an 90.000-150.000 Armeniern.[14] Erst ab 1912 kam wieder Bewegung in das Reformprojekt. Am 8. Februar 1914 wurde unter der Federführung Russlands ein „Armenischer Reformplan“ unterzeichnet, der internationale Beobachter zur Durchsetzung der Reformen vorsah. Spätestens nach dieser Vereinbarung galten die Armenier als „fünfte Kolonne“ der europäischen Großmächte. Nur wenige Monate später begann der Erste Weltkrieg und der Reformplan wurde aufgekündigt. Das Osmanische Reich trat als Teil der Mittelmächte in den Krieg ein. Was das für die Armenier bedeutete, zeichnete sich bald grausam ab.

Armenische deportierte Mutter mit ihrer Tochter. Quelle: Maria Jacobsen: Diary (Oragrutjun) 1907-1919, Kharput-Turkey. Antelias 1979 bei Arbeitsgruppe Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung e.V. (AGA)

Der Völkermord

Die erste Welle von Deportationen fand von April bis Anfang Juni 1915 statt.[15] Am 24. April wurden reichsweit führende Armenier verhaftet, darunter 235 armenische Journalisten, Geistliche, Politiker und Lehrer in Konstantinopel. Viele von ihnen wurden gefoltert und getötet. Im Mai 1915 wurden Armenier aus dem Taurus-Gebirge, der östlichen Grenze des Reichs und der Provinz Mossul (heutiger Nordirak) nach Deir ez-Zor (im Osten des heutigen Syriens) deportiert. Die zweite Welle vollzog sich von Juni bis Anfang August 1915 und betraf die Armenier aus Erzurum, Trapezunt, Van, Bitlis, Karberd, Diyarbakir und Sebastia. Auch die systematische Konfiszierung armenischen Eigentums durch das Ministerium des Inneren begann in diesem Zeitraum.[16] Im August 1915 setzte die dritte Welle ein, die die zentralen und westlichen Provinzen Kleinasiens umfasste. Die Stadt Aleppo und ihre Umgebung wurden zu Wegkreuzungen des Todes. Von dort aus wurden die Frauen, Kinder und Älteren in die mesopotamische Wüste getrieben, ohne Proviant und immer wieder organisierten großen Massakern der „Spezialorganisation“ an ausgewählten Exekutionsplätzen ausgeliefert.

Ende August 1915 bemerkte der Innenminister und Großwesir des Osmanischen Reiches Mehmet Talaat gegenüber dem deutschen Sonderbotschafter zu Hohenlohe-Langenburg: „La question arménienne n'existe plus.“, die armenische Frage existiert nicht mehr[17]. Tatsächlich war die armenische Bevölkerung bis September 1915 aus den meisten Provinzen deportiert worden. Die Todesmärsche entlang des Euphrats in die Wüste zogen sich jedoch bis in den Herbst 1916 hin, und ihnen folgte im Sommer 1916 eine weitere Welle von großen Massakern. Der deutsche Sanitätsunteroffizier Armin T. Wegner, der einen Teil der Deportationen fotografisch dokumentierte, beschreibt als Augenzeuge die Route entlang des Euphrats eindrücklich: „Bald begegnen wir den ersten Flüchtlingen. Die Ränder aller Wege sind mit ihren Knochen besät, die grell in der Sonne bleichen. […] In einer Schlucht finde ich einen Haufen übereinander getürmter Menschengerippe. Weiße Schädel, die noch mit Haaren bedeckt sind, ein Becken, die Brustgerippe eines Kindes, zierlich gebogen wie eine Spange.“[18]

Etwa 1.3 Millionen Armenier wurden während des Ersten Weltkriegs ermordet. Die genaue Zahl der Opfer wird unbekannt bleiben, weil die vorhandenen Bevölkerungsstatistiken unvollständig und kritisch zu betrachten sind.[19] Es wäre wünschenswert, jedes einzelne Opfer benennen zu können. Fakt ist: Nach 1918 lebten nahezu keine Armenier mehr auf dem ehemaligen Territorium des Osmanischen Reiches.

1915 – ein russischer Soldat betrachtet die Gebeine von Opfern eines armenischen Dorfes bei Musch.

[1] Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, PA-AA/R14086; A 21257, pr. 12.7.1915 p.m.
[2] Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, PA-AA/R14089.
[3] Deutscher Bundestag, 18. Wahlperiode, Drucksache 18/8613.
[4] Ternon, Yves: Der verbrecherische Staat, Hamburg 1996, S. 139.
[5] Zur Struktur des jungtürkischen Regimes siehe Zürcher, Erik-Jan: Jungtürkische Entscheidungsmuster 1913-1915, in: Hosfeld, Rolf/Pschichholz, Christin (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Völkermord an den Armeniern, Göttingen 2017, S. 81-105.
[6] So Dadrian, Vahakn N.: The History of the Armenian Genocide. Ethnic Conflict from the Balkan to Anatolia and the Caucasus, Oxford 1995.
[7] Unter anderem: Hosfeld, Rolf: Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern, München 2015; Hilmar Kaiser: Genocide at the Twilight of the Ottoman Empire, in Bloxham, Donald/Moses, A. Dirk (Hrsg.), The Oxford Handbook of Genocide Studies, Oxford 2010, S. 365-385.
[8] Hosfeld 2015, S. 63.
[9] Hanioğlu, M. Şükrü: The Young Turks in Opposition, Oxford 1995, S. 18
[10] So die treffende Einschätzung des Theologen und Humanisten Johannes Lepsius in Lepsius, Johannes: Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei, Potsdam 1916, S. 158.
[11] Zu den Zahlen siehe Kaiser, S. 369ff.
[12] Vgl. Kévorkian, Raymond: The Armenian Genocide. A Complete History, London 2011, S. 217-223 und Özel, Oktay: The Role of Teşkilat-ı Mahsusa (Special Organization) in the Armenian Genocide, in: Pschichholz, Christin (Hrsg.): The First World War as a Caesura? Demographic Concepts, Population Policy, Genocide in late Ottoman, Russian, and Habsburg Spheres, Berlin 2020.
[13] Der Berliner Kongress 1878. Protokolle und Materialien, hrsg. von Imanuel Geiss, Boppard a. R. 1978, S. 405.
[14] Verheij, Jelle: Die armenischen Massaker von 1894–1896. Anatomie und Hintergründe einer Krise, in: Hans-Lukas Kieser (Hrsg.), Die armenische Frage und die Schweiz (1896-1923), Zürich 1999, S. 69-129.
[15] Folgen wir hier den Darstellungen von Rolf Hosfeld, Hilmar Kaiser und Raymond Kévorkian, die die Deportationen in ihren historischen Darstellungen minutiös rekonstruiert haben.
[16] Vgl. Akçam, Taner/Kurt, Ümit: The Spirit of the Laws: The Plunder of Wealth in the Armenian Genocide, New York 2015.
[17] Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Türkei 183/38, A 26474, Hohenlohe an Bethmann Hollweg, Pera, 4. September 1915.
[18] Wegner, Armin T.: Das Zelt. Aufzeichnungen, Briefe, Erzählungen aus der Türkei, Berlin 1926, S. 133, 137.
[19] Vgl. Hilmar Kaiser 2010, S. 382f.