Johannes Lepsius und der Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern
Einführungsvortrag zur internationalen Konferenz »Johannes Lepsius und der Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern« am 26./27. November 2010 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam
Der Philosoph, Theologe und Philanthrop Dr. Johannes Lepsius (1858–1926), Helfer und Anwalt des im 19./20. Jahrhundert von der völligen Vernichtung bedrohten armenischen Volkes, hat international die erste systematische Dokumentation des Genozids am armenischen Volk als Aufruf zur Hilfe verfasst. Das Manuskript kursierte bereits während des laufenden Völkermords im Herbst 1915 in Deutschland. So konnte sich der Reichstagsabgeordnete Dr. Karl Liebknecht am 11. Januar 1916 in seiner„Kleinen Anfrage“ an die deutsche Reichsregierung auf die Materialien des kritischen Theologen Johannes Lepsius stützen.
Die Drucklegung der Dokumentation nahm aber noch einige Zeit in Anspruch, da eine Reihe von Druckereien, aufgrund der über das ganze Armenien-Thema verhängten deutschen Regierungszensur, es ablehnten, das ihrer Meinung nach gefährliche Manuskript zu setzen bzw. zu drucken. Schließlich gelang es Johannes Lepsius, mit Hilfe der Druckerei der Zeitung Der Reichsbote in Berlin und der Firma Imberg & Lefson in Neubabelsberg seine Dokumentation im Juli 1916 in seinem eigenen Potsdamer Tempelverlag als Buch zu publizieren.
Diese erste Ausgabe trug den Titel »Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in derTürkei«. Das Kuratorium von Lepsius‘ eigenem Armenier-Hilfswerk lehnte aus politischen Bedenken ab, die Verbreitung dieser Dokumentation finanziell und logistisch zu unterstützen. So hatJohannes Lepsius auf eigene Verantwortung, nur mit Hilfe weniger Mitarbeiter und Familienmitglieder, diesen „Bericht“ in 20.500 Exemplaren in Deutschland und über die deutschen Grenzen hinaus verbreitet. Er wurde auch mit Hindernissen an deutsche Politiker und an die Redaktionen großer deutscher Tageszeitungen gesandt.
Die Exemplare für Abgeordnete des deutschen Reichstages und des Württembergischen Landtages wurden aber von der Polizei, ohne dass der Absender bzw. die Empfänger darüber in Kenntnis gesetzt wurden, zurückgehalten. Erst im April 1919 setzte das Berliner Polizeipräsidium Lepsius davon in Kenntnis, und erst jetzt erhielten Abgeordnete des Reichstages und des Landtages diese historische Dokumentation. Die Tatsache, dass Reichstagsabgeordneten, also höchsten politischen Repräsentanten des deutschen Volkes, diese brisanten Informationen durch den Staat vorenthalten wurden, hat noch im Jahre 2005 eine Reihe von Abgeordneten des Deutschen Bundestages – als sie diese Information vom Johannes-Lepsius-Archiv erhielten – so sehr empört, dass diese Empörung dazu beitrug, erstmals eine Resolution zum 90. Gedächtnistag des Völkermords an den Armeniern im Bundestag einzubringen, in welcher im Begründungstext die Deportationen und Massaker als Genozid benannt werden.[i]
Ein erster Entwurf dieser Resolution wurde am 21. April 2005 in der 172. Sitzung des Deutschen Bundestages eingebracht. Dazu fand am Nachmittag desselben Tages im Plenum des Bundestages eine Aussprache statt, in welcher Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen sich auf den Widerstand von Johannes Lepsius gegen den Völkermord bezogen und selbst das armenische Volk angesichts der Rolle des Deutschen Reichs während des Genozids um Entschuldigung baten.[ii] Die deutschen Medien haben davon weniger berichtet, als eigentlich nötig gewesen wäre. Wenn heute mutige türkische Intellektuelle auch in Deutschland medialen Eindruck machen, in dem sie beim armenischen Volk wegen des Genozids um Entschuldigung bitten, so wird dabei in den deutschen Medien mit keinem Wort an die schon vorJahren im Deutschen Bundestag erklungenen Bitten höchster Vertreter des deutschen Volkes um Entschuldigung beim armenischen Volk erinnert.
Auch ist in der internationalen Forschung bis heute kaum bekannt, dass bereits 1916 die durch Lepsius veranlasste französische Übersetzung des „Berichts“ im Druck vorlag, welche 1918 in Paris als »Rapport secret sur les massacres d’Arménie« (mit einem Vorwort von René Pinon) wieder herausgegeben wurde, die durch die Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts weitere Nachdrucke erfuhr.
Der französische Titel »Rapport secret« ist irreführend, da Lepsius – ganz im Gegenteil – seinem „Bericht“ eine weite Öffentlichkeit verschafft hatte. Auf dem Titelblatt des deutschen Originals steht zwar „Streng vertraulich! Abdruck und Benutzung in der Presse verboten!“ und „Als Manuskript gedruckt“, es erscheint aber nirgends der Begriff „Geheimbericht“. Dies ist lediglich eine juristische Schutzformel, die Lepsius gegenüber der deutschen Zensur brauchte, um strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden zu können.[i]
Als nach dem Ersten Weltkrieg die Zensur gegen das Armenien-Thema aufgehoben wurde, gab Johannes Lepsius seinen „Bericht“ in einer zweiten Auflage 1919, wieder in seinem Potsdamer Tempelverlag heraus. Diese enorm wichtige „zweite, vermehrte Auflage“ erhielt einen neuen Obertitel: »Der Todesgang des Armenischen Volkes«. Der Untertitel ist eine Variante des ursprünglichen Titels, der nun lautet: »Bericht über das Schicksal des Armenischen Volkes während des Weltkrieges«.
[i]Vgl. Hermann Goltz (Hrsg.), Deutschland, Armenien und die Türkei 1895–1925. Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr.Johannes-Lepsius-Archiv, Teil 3: Hermann Goltz und Axel Meissner, ThematischesLexikon zu Personen, Institutionen, Orten,Ereignissen, München 2004,S. 72–74.
[i]Vgl. den Text der Resolution als Bundestagsdrucksache 15/5689 vom 15. Juni 2005.
[ii]Vgl. die gesamte Debatte im Protokoll der 172. Plenarsitzung des Deutschen Bundestages am 21. April 2005. Filmaufnahmen der ganzen Aussprache sind auch imInternet zugänglich, der Film der gesamten Sitzung ist auch beimDeutschen Bundestag bestellbar.