Die Rezeption des Völkermordes in Deutschland nach 1949
Vortrag auf der internationalen Konferenz »Johannes Lepsius und der Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern« am26./27. November 2010 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam.
Anfang April dieses Jahres sendete die ARD die Dokumentation von Eric Friedler „Ageht – ein Völkermord“. Der aufwändig recherchierte Film zeichnet den Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges auf der Grundlage zahlreicher historischer Quellen nach, indem er – hochkarätig besetzt - Schauspielerinnen und Schauspieler die überlieferten Zeitzeugenberichte sprechen lässt. Eindrückliche Berichte, Aufzeichnungen und Tagebucheinträge von Diplomaten, Krankenschwestern und Missionaren, die während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich lebten, Augenzeugen des Geschehens wurden und ihre Beobachtungen schriftlich festhielten. Die passive Haltung der damaligen deutschen Reichsregierung als Bündnispartner des Osmanischen Reiches, die zwar über ihre Diplomaten detailgenau über das Geschehen informiert war, aus bündnisstrategischen Erwägungen jedoch nicht bei der Hohen Pforte intervenierte, wird im Film deutlich angesprochen. Ebenso werden die Beweggründe für die bis heute fortdauernde Leugnungspolitik der türkischen Regierungen beleuchtet und im Gegensatz dazu – am Beispiel der Reaktionen auf die Ermordung des türkischarmenischen Journalisten Hrant Dink im Januar 2007 – auch die Aktivitäten der türkischen Zivilbevölkerung, die sich gegen die offizielle Darstellung immer lauter zu Wort meldet, aufgezeigt. Und auch das von bündnisstrategischen Erwägungen geprägte Verhalten der Staatengemeinschaft gegenüber der Türkei ist Gegenstand der Dokumentation. Der Film „Ageht“, der imSommer auch vor Abgeordneten des US-Kongresses gezeigt worden ist, wurde am 9.Oktober dieses Jahres mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet.
Nach der Ausstrahlung des Films erreichten die ARD-Sendeanstalt zahlreiche Briefe und E-Mails von türkischen Organisationen,Gemeinden und Privatpersonen, die ihren Unmut über die Ausstrahlung des Filmes äußerten. Ähnlich wie 24 Jahre zuvor, als mit Ralph Giordanos Dokumentation „Die armenische Frage existiert nicht mehr“ erstmals eine Dokumentation zum Völkermord im deutschen Fernsehen gesendet wurde[1], wurde dem Sender vorgeworfen, einseitig „nur aus der Sicht der armenischen Seite“ zu berichten, Propaganda aufgesessen zu sein und „nachweislich verfälschtes Material“ gesendet zu haben[2]. Den Sender erreichten jedoch auch – so ließ es der ARD-Vorsitzende Peter Boudgoust in einer offiziellen Erklärung, in der er den Propaganda-Vorwurf zurückwies, verlautbaren – zustimmende Briefe: „Mit Bedauern“, schrieb er,„nehme ich zur Kenntnis, dass nach Ihrem Eindruck die Verwendung des Begriffs „Völkermord“ bei unseren türkischen Mitbürgern in Deutschland Entrüstung ausgelöst habe. Diese Meinung wird jedoch keineswegs von allen Türken geteilt, wie die Solidaritätsdemonstration von mehr als 200.000 Menschen in Istanbul nach der Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink 2007 eindrucksvoll gezeigt hat. Nach der Ausstrahlung von „AGHET“ haben die ARD zahlreiche E-Mails – auch von Deutschen türkischer Herkunft – erreicht, die den Film für wichtig und notwendig halten. Die internationale Geschichtswissenschaft sieht den Genozid an den Armeniern als erwiesen an.“[3]
Der Film und die Stellungnahme fassen die Erkenntnisse der historischen Forschung zum Genozid an den Armeniern und den aktuellen Stand, wie der Völkermord in der Welt behandelt wird, sehr gut zusammen.
Die deutsche Politik tut sich bis heute schwer, sich zu den Ereignissen von 1915 so eindeutig zu verhalten. Am 16. Juni 2005 verabschiedete der Deutsche Bundestag mit den Stimmen aller Fraktionen eine Resolution mit dem Titel „Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“.[4] Die Bundesrepublik gliederte sich damit in die Reihe der mehr als zwanzig Länder ein, die in den vergangenen Jahren bereits eine Resolution zum Genozid an den Armeniern formuliert hatten.
Die Erklärung des Deutschen Bundestages wurde als ein historischer Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte des Völkermordes an den Armeniern in Deutschland bewertet. Erstmals wurde von politischer Seite ohne Anstoß von außen zu diesem Thema Stellung bezogen.
Der Beschluss des Deutschen Bundestages unterscheidet sich von denen der anderen Länder. So kommt das Wort Völkermord im Resolutionstext nicht vor, was insbesondere von Seiten der armenischen Gemeinden, aber nicht nur von diesen, kritisiert wurde. In der Erklärung wird von „organisierte(r) Vertreibung und Vernichtung“ gesprochen, lediglich in der Begründung des Beschlusses wird darauf verwiesen, dass „zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen (...) die Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord“ bezeichnen. Die Erklärung unterscheidet sich auch dadurch, dass in dem Text auf die besondere Rolle des Deutschen Reiches als Verbündeter des Osmanischen Reiches eingegangen wird. Die Parlamentarier äußerten ihr Bedauern über die „unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen (...) nicht einmal versucht habe, die Gräuel zu stoppen.“ Und schließlich ist die Resolution anders, weil sie Anstöße zum Handeln gibt: sie betont, dass Deutschland aufgrund seiner historischen Rolle während des Geschehens und angesichts der großen Anzahl der in Deutschland lebenden Muslime aus der Türkei eine besondere Verpflichtung habe, die Geschichte zu vergegenwärtigen und zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei und zur Aussöhnung beizutragen. An die für die Bildungspolitik zuständigen Länder wird appelliert, dazu beizutragen, dass die Aufarbeitung der Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Teil der Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert auch in Deutschland erfolge. An die Bundesregierung erging dieAufforderung dafür einzutreten, dass sich Parlament, Regierung und Gesellschaft der Türkei mit ihrer Rolle gegenüber dem armenischen Volk in Geschichte und Gegenwart vorbehaltlos auseinandersetzen.
Worte, wie sie die Parlamentarier des Deutschen Bundestages im Juni 2005 anlässlich des 90. Jahrestages des Beginns des Genozids gefunden hatten – so unbefriedigend sie für einige wegen der Kompromisse auch waren –, waren zuvor in Deutschland von politischer Seite nicht zu hören gewesen und das Schicksal der Armenier hatte in diesem Zusammenhang aufgrund der umfangreichen Berichterstattung in den Medien zu dem Beschluss sowie auch allgemein zum Völkermord an den Armeniern rund um den 90. Jahrestag eine bis dahin nicht erreichte Aufmerksamkeit in der deutschen Öffentlichkeit erhalten.
Wie war es vorher? In einem Rückblick soll daher skizziert werden, in welcher Form und von wem in der Bundesrepublik an den Genozid an den Armeniern erinnert wurde und welche außen- und innenpolitischen Faktoren hierfür ausschlaggebend waren:
Bis zur Mitte der 1970er Jahre war der Völkermord an den Armeniern weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Nachdem Ende des Zweiten Weltkrieges beherrschte nicht nur in Deutschland, sondern weltweit der Völkermord an den Juden Europas den historischen Erinnerungsdiskurs. Die Bundesrepublik war in den ersten Nachkriegsjahrzehnten mit dem Wiederaufbau und dem Bemühen beschäftigt, sich in der internationalen Gemeinschaft neu zu verankern. Die deutsch-türkischen Beziehungen entwickelten sich aufgrund gleichlautender Interessen und gemeinsamer Erfahrungen, die beide Staaten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts miteinander verbanden, besonders schnell und intensiv. Bis zum Ende des Kalten Krieges waren sowohl die Türkei als auch die Bundesrepublik durch ihre Mitgliedschaft in der NATO tragende Bausteine des westlichen Sicherheitssystems. Von nicht minder großer Relevanz waren die intensiven Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und der Türkei, die sowohl im militärstrategischen Interesse des gesamten Westens als auch imnationalen Interesse beider Staaten lagen. In beiden Bereichen hat die Türkei bis heute nicht an Bedeutung verloren.
Die Türkei war das erste Land nach den Siegermächten, in das 1950 ein deutscher Diplomat entsandt wurde. In den Berichten der deutschen Diplomaten in der Türkei aus den 1950er, 60er und 70er Jahren, die im Auswärtigen Amt einzusehen sind, finden sich wenige, dafür aber sehr aufschlussreiche Passagen, in denen das armenische Schicksal direkt angesprochen wird. Es handelt sich hierbei jeweils um interne, nur für den Dienstgebrauch bestimmte Dokumente. Diese Dokumente zeigen deutlich, dass den Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes zu einer Zeit, als in der Bundesrepublik das Schicksal der Armenier im öffentlichen Bewusstsein nahezu in Vergessenheit geraten war, das Ausmaß und die Zielsetzung des an den Armeniern begangenen Verbrechens sehr wohl bewusst war. Als erster offizieller Vertreter einer deutschen Regierung seit 1944 unternahm der deutsche Botschafter Wilhelm Haasim Juni 1955 eine Reise nach Ostanatolien und berichtete u.a., dass seine türkischen Gesprächspartner „über die Ausrottung der Armenier (...) nicht ohne Verständnis für die Tragik des Vernichtungskampfes als ein geschichtlich unvermeidliches Geschehen recht offen“ sprachen.[5]In dem Bericht seines Amtsnachfolgers, der zwei Jahre später die Osttürkei und dort u. a. auch die Gegend um den Van-See bereiste, heißt es knapp: „Von den Türken restlos gelöst wurde die Armenier-Frage. Die letzten im Gebiet von Van und Kars ansässigen Armenier, welche die Pogrome vor und während des ersten Weltkrieges überlebt hatten, verließen Anfang der 20er Jahre das Land.“[6]Nordostanatolien wurde erst wieder im Jahr 1972 von einem Angehörigen der Deutschen Botschaft bereist. Dieser erwähnt die Armenier überhaupt nicht mehr. Er besichtigte zwar unter anderem die alte armenische Königsstadt Ani und die dort noch sehr gut erhaltenen christlichen Kirchen. Sein Fokus war jedoch auf den Grenzcharakter der Region gerichtet, der von der stark ausgebildeten Vorstellung von einer angeblichen sowjetischen Bedrohung geprägt war.[7] Die Armenier wurden somit von ihm gar nicht als Nation mit eigener Geschichte und Kultur wahrgenommen, sondern nur als Teil des Regimes hinter dem Eisernen Vorhang.
Wie ist dieses (lückenhafte) Wahrnehmung zu erklären? Zunächst ist es Aufgabe eines Diplomaten, für gute Beziehungen zwischen seinem Land und dem Staat, in dem er seine Mission ausübt, Sorge zu tragen. Das Völkerrecht verbietet ihm, sich in die inneren Angelegenheiten des Gaststaates einzumischen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in Gesprächen zwischen Vertretern der Bundesrepublik und der Türkei der Völkermord an den Armeniern keine große Rolle spielte. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass sich Diplomaten überwiegend mit aktuellen ethnischen und politischen Problemen beschäftigten. Die Kurden, von denen eine viel größere Zahl in der Türkei lebte, tauchen dementsprechend in den Berichten viel häufiger und ausführlicher auf. Und schließlich waren die Armenier für die deutschen Diplomaten entsprechend dem Freund-Feind-Denken des Kalten Krieges nur eine Gruppe hinter dem Eisernen Vorhang, deren Belange keine gesonderte Beobachtung und Beachtung erfuhren.
Wie sahen auf der anderen Seite die Beziehungen zwischen Deutschland und der Republik Armenien aus? Bis 1990 gehörte Armenien als territorial kleinste Teilrepublik zur Sowjetunion und war dementsprechend außenpolitisch handlungsunfähig. Weder wirtschaftlich noch militärstrategisch lag Armenien jemals im Interessenfeld des Westens. Unter sowjetischer Hegemonie spielte der Völkermord in den bilateralen Gesprächen gar keine Rolle. Die Behandlung der vor sowjetischen armenischen Geschichte und hierbei vor allem des Völkermordes waren innenpolitisch nicht erwünscht, die nationalen Anliegen der Armenier wurden den außenpolitischen Interessen der Sowjetunion untergeordnet, die auch darauf abzielten, die Beziehungen zur Türkei nicht zu belasten. In den Akten des Auswärtigen Amtes findet sich dementsprechend bis Ende der 1970er Jahre kein einziges Schriftstück eines deutschen diplomatische Vertreters inMoskau, in dem der Genozid an den Armeniern angesprochen wurde, nicht einmal die Berichte aus dem Jahr 1965, als in Eriwan und Moskau wie in vielen anderen Staaten der Welt anlässlich des 50. Jahrestages zum Gedenken an den Völkermord Massendemonstrationen stattfanden[8], oder über die Errichtung der Genozidgedenkstätte in Eriwan 1967, mit der es der sowjetischen Führung schließlich gelang, das zunehmende Nationalbewusstsein der Sowjetarmenier zu ritualisieren und zu einem festen Bestandteil der Ideologie werden zu lassen[9], verhalten sich dazu.
In der Außenpolitik war in den ersten Jahrzehnten also keine Sensibilität für das Thema festzustellen und von außen wurde es auch nicht an die Politik herangetragen. Innenpolitisch gehen Impulse, einbestimmtes Thema auf die Ebene der Politik zu heben, in der Regel von den Betroffenen selbst aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten nur wenige Armenierin Deutschland und diese eher zurückgezogen. Erst der Zuzug von Armeniern aus der Türkei ab Mitte der 1960 Jahre führte dazu, dass sie sich zu organisieren begannen und ab 1965 anlässlich des 50. Jahrestages alljährlich öffentlich an ihr Schicksal zu erinnern und Anerkennung zu fordern. Die Wahrnehmung blieb allerdings zunächst begrenzt.
Erst die militanten Aktionen von verschiedenen armenischen Untergrundorganisationen im Ausland gegen türkische Diplomaten und türkische Einrichtungen in der ganzen Welt, bei denen zwischen 1973 und 1985 40 Menschen ums Leben kamen, über 200 Personen verletzt wurden und Sachschaden in Millionenhöhe entstanden war, riefen ab Mitte der 1970er Jahre den Völkermord von 1915/16 wieder in Erinnerung. Über diese Anschläge und vor allem die in der Folgezeit beginnenden Anerkennungsbemühungen in internationalen Gremien und nationalen Parlamenten, an die sich die armenischen Diasporagemeinden seit Mitte der 1980er Jahren zunehmend wandten, um gegen die türkische Leugnungspolitik zu protestieren und gegen das Vergessen anzukämpfen, wurde in den deutschen Medien berichtet (zu erinnern ist z.B. an die Erklärung im Unterausschuss zur Verhütung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheitenrechten der UN-Menschenrechtskommission aus dem Jahr 1985, an die Resolution des Europaparlament 1987 sowie an Erklärungen verschiedener nationaler Parlamente). Ende der 1980er Jahre wurden in den Zeitungen auch Hintergrundberichte zu den historischen Ereignissen von 1915/16 gebracht. Wurde anfangs in der Berichterstattung die sogenannte armenische Sichtweise noch gleichberechtigt der offiziellen türkischen Darstellung der Ereignisse gegenübergestellt, so wird seit Ende der 80er Jahre in den deutschen Medien die Bewertung der Ereignisse als Völkermord entsprechend dem Stand der historischen Forschung nicht mehr in Frage gestellt. Der Schwerpunkt der Berichterstattung lag jedoch zumeist auf den oft sehr harschen Reaktionen von türkischer Seite auf diese Anerkennungsbemühungen wie z.B. nach der Entscheidung der französischen Nationalversammlung, in deren Folge die Türkei ihren Botschafteraus Frankreich abberief, zum Boykott französischer Produkte aufrief und Wirtschaftsaufträge im Wert von mehreren Millionen Dollar an französische Unternehmen stornierte.[10]
In Deutschland gab es bis zum Jahr 2000 keine zentralen, bundesweit organisierten Bemühungen um Anerkennung des Genozids. Die Aufklärungsarbeit wurde von armenischen Gemeinden, oft in Zusammenarbeit mit Menschenrechtsvereinen oder Kirchengemeinden lokal organisiert. Auch diese Aktivitäten riefen jedoch oft türkischen Protest hervor, wodurch sich wiederum Lokalpolitiker veranlasst fühlten, sich zu den Veranstaltungen zu äußern und gelegentlich auch im Sinne des türkischen Protestes in die Planungen einzugreifen. Zu erinnern ist z.B. an die von der Landeszentrale für politische Bildung mitorganisierten Konferenz „Genozid und Holocaust“ 1985 in Bremen. Der Bremer Bildungssenator griff damals auf Druck der türkischen Botschaft in Bonn, des türkischen Generalkonsulats Hannover sowie des Auswärtigen Amtes in Bonn, welche die Veranstaltung allesamt als türkenfeindlich bewerteten, im Vorfeld der Konferenz massiv in deren Gestaltung ein. Für sein Verhalten, das von der Presse beobachtet und kritisiert wurde, musste er sich auch später in der Bremer Bürgerschaft rechtfertigen.[11]
Ein anderes Beispiel ist der Streit um die Erwähnung des Völkermordes an den Armeniern im Brandenburger Lehrplan.[12] Auf Initiative des damaligen Brandenburgischen Bildungsministers Steffen Reiche war 2002 derGenozid an den Armeniern als Lehrinhalt in den Lehrplan aufgenommen waren. Knapp drei Jahre später, im Januar 2005 war er, nachdem der türkische Generalkonsul bei einem gemeinsamen Mittagessen mit dem brandenburgischen Ministerpräsident Matthias Platzeck und dem Bildungsminister Holger Rupprecht sein Missfallen geäußert hatte –, war der Passus über den Genozid an den Armeniern klammheimlich und ohne offizielle Begründung, aus der Online-Version des Rahmenplans entfernt worden. Die Streichung blieb jedoch nicht unbemerkt und die Medien berichteten in der Folge auch überregional sehr kritisch und für die Lokalpolitiker sicher überraschend ausführlich. Nach einigem Hin- und Her und müden Rechtfertigungsbemühungen seitens der Landesregierung wurde der Passus zum Beginn des Schuljahrs 2005/2006 wieder in den Rahmenplan aufgenommen. Steffen Reiche bezeichnete 2005 die türkische Intervention auf die bis dahin völlig unbeachtete Erwähnung des Völkermordes im Lehrplan nicht ohne gewisse Freude als „klassisches Eigentor“, die Streichung habe mehr für die armenische Sache bewirkt als vieles zuvor.[13] Dieses Beispiel zeigt noch einmal deutlich, dass die Aufmerksamkeit, die ein Ereignis – in diesem Fall die Erwähnung des Völkermords im Rahmenplan für dieSchulen – medial bekommen hat, eine Folge des türkischen Protestes war. Für die Türkei war der Fall jedoch noch nicht abgeschlossen. Im Herbst 2009 forderte der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland den Brandenburgischen Ministerpräsidenten erneut auf, den Genozid an den Armeniern aus dem Lehrplan zu streichen. Die Bezeichnung der Ereignisse von 1915 als „Genozid“, so seine Begründung, würde die türkischstämmigen Schüler unter „psychologischen Druck“ setzen, der sie in ihren schulischen Leistungen beeinträchtigen würde, zudem würde der „innere Frieden“ hierdurch gefährdet.[14] Der Einspruch blieb in diesem Fall folgenlos.
Aufgrund der heftigen emotionalen Reaktionen der türkischen Regierung und auch von einigen in Deutschland lebenden Türken auf jegliche Erwähnung des Völkermordes fokussierte sich in Deutschland die öffentliche Debatte hinsichtlich des Themas darauf, ob es für Deutschland ratsam sei, sich des Themas überhaupt anzunehmen und vor allem, ob es sinnvoll sei, den Begriff „Völkermord“ für die Ereignisse von 1915/16 zu verwenden. Inoffiziellen Erklärungen von Politikern wird zwar oft darauf verwiesen, dass gerade die Freundschaft zwischen der Türkei und der Bundesrepublik dazu verpflichte, auch unbequeme Themen mit offenen Worten anzusprechen. Bei bilateralen Gesprächen zwischen türkischen und deutschen Regierungsvertretern und Repräsentanten des Staates sind diese offenen Worte jedoch kaum zu hören, weiche Formulierungen wie „ein Volk muss zu seiner Vergangenheit stehen“[15], wie Christian Wulff sie bei seinem ersten Reise als Bundespräsident in die Türkei im Herbst 2010 wählte, bei der zwar jeder weiß, was gemeint ist, es aber nicht offen ausgesprochen wird, sind die Regel. Oder: Es wird allgemein an die EU-Beitrittskandidatin Türkei appelliert, dass Europa-Reife die Freiheit der Meinungsäußerung und auch die „Fähigkeit zur kritischen Vergangenheitsbewältigung einschließlich von Schuldanerkennung“ verlange. Als im Jahr 2000 ein erster Antrag zur Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags herangetragen wurde[16] ,plädierte die Mehrzahl der Politiker für Zurückhaltung, auch wenn sie in internen Schreiben oder gegenüber armenischen Gemeinden klar festhielten, dass es sich bei den Ereignissen von 1915/16 zweifellos um einen Genozid gehandelt hat.[17] Fraktionsübergreifend wurden hierfür Argumente angeführt, die auch heute in der Diskussion um das Thema immer wieder auftauchen und die im Folgenden zusammengefasst werden:
a) Das am häufigsten und längsten genannte Argument lautet, dass historische Ereignisse von der Geschichtswissenschaft zu bewerten seien und nicht von Parlamenten (schon 1987 hatte die Bundesregierung die Entscheidung des EU-Parlaments mit dieser Bemerkung kommentiert und im Jahr2000 wurde eine kurz vor dem erwähnten Petitionsentscheid eingerichtete türkisch-armenische Versöhnungskommission als Argument angeführt, sich mit demThema von deutscher Seite nicht weiter befassen zu müssen.)
b) Es wurde die Sorge geäußert, die Beziehungen zur Türkei könne durch eine Bundestagsentscheidung belastet werden. In diesemZusammenhang wurde auf die mitunter sehr harschen Reaktionen der türkischenRegierung auf jegliche Erwähnung des Völkermordes, wie beispielsweise Bewertungen von Parlamenten verwiesen.
c) Es wurde für Zurückhaltung plädiert aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands, derentwegen sich gerade die Bundesrepublik einer Stellungnahme bezüglich des Genozids an den Armeniern besser enthalten sollte.
d) Nicht offen, aber implizit wird die besondere Bevölkerungssituation in der Bundesrepublik als Argument angeführt, die geringe Zahl der Armenier, die hohe Zahl der Türken. Die geringe Anzahl der Armenier führt bisweilen dazu, dass sie gar nicht erst als eigene Minderheit wahrgenommen werden, womit beispielsweise der CDU Abgeordnete Karl Lamers noch 2001 begründete, weshalb er einen Beschluss des Deutschen Bundestages zur Anerkennung der Ereignisse von 1915/16 als Völkermord für nicht sinnvoll hält: „Das bewegt hier nicht die Öffentlichkeit, wir haben keine armenische Minderheit.“[18]
e) Und schließlich wird befürchtet, der Dialog zwischen Armeniern und Türken könne durch solche Erklärungen gestört und insbesondere den noch in der Türkei lebenden Armeniern dadurch geschadet werden.
Die Sorge, die Verwendung des Wortes „Völkermord“ könne „kontraproduktiv" auf die innertürkische Diskussion wirken, veranlasste die Parlamentarier auch 2005, in der Erklärung des Deutschen Bundestages den Begriff nicht zu verwenden. Die Türkei dankte den Parlamentariern ihres prachliche Zurückhaltung allerdings nicht, sondern reagierte wie gewohnt: Noch vor der Verabschiedung des Beschlusses wurde der deutsche Botschafter in Ankara ins türkische Außenministerium einbestellt, Abdullah Gül empörte sich, wie sein Land „in billiger Art und Weise“ beschuldigt werde, Erdogan bezeichnete den Beschluss als „sehr falsch und sehr hässlich“ und warf dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder vor, „rückgratlos“ zu sein. In Berlin folgten etwa 2500 Menschen dem Aufruf der Türkischen Gemeinde zu einer Demonstration unter dem Titel „Gegen die Stigmatisierung des türkischen Volkes“.[19]
Über fünf Jahre sind seit der Erklärung des Deutschen Bundestages vergangen. In der Türkei hat sich in diesen fünf Jahren einiges verändert, die Bilder von den Solidaritätsdemonstrationen nach der Ermordung Hrant Dinks 2007 in Istanbul sowie die erste öffentliche Gedenkveranstaltung inIstanbul anlässlich des 95. Jahrestages in diesem Jahr sind nur zwei Beispiele, die zu nennen wären.
Wie sieht es in Deutschland aus? Seit 2008 wird das Lepsiushaus in Potsdam aus Bundesmitteln gefördert. Die Bundesregierung möchte damit dem in dem Bundestagsentschluss formuliertem Anspruch gerecht werden,„Leben und Werk von Dr. Johannes Lepsius dem Vergessen zu entreißen und im Sinne der Verbesserung der Beziehungen zwischen dem armenischen, dem deutschen und dem türkischen Volk zu pflegen und zu erhalten."[20] Im Bereich der Bildungspolitik gibt es wenig Neues zu berichten: Zwar taucht das Geschichtskapitel 1915/16 inzwischen in einigen Schulbüchern auf, Brandenburg ist jedoch nach wie vor das einzige Bundesland, in dem der Völkermord an den Armeniern laut Lehrplan Thema des Geschichtsunterrichts sein soll. Von einer Verankerung des Ereignisses an sich nach dem Stand der historischen Forschung und der Rolle des Deutschen Reiches als Bündnispartner des Osmanischen Reiches im kollektiven Gedächtnis ist Deutschland noch immer weit entfernt.
In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der Linken vom Frühjahr dieses Jahres zur Umsetzung der Bundestagsresolution von 2005[21], in der die Bundesregierung gefragt wurde, welche konkreten Schritte sie seit Verabschiedung der Bundestagsresolution unternommen habe, um auf die türkische Regierung einzuwirken, dass die Kritikerinnen und Kritiker des offiziösen Geschichtsbildes ihr demokratisches Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ausüben dürfen, ohne dafür strafrechtlich belangt zu werden, erklärte das Auswärtige Amt, dass die Bundesregierung sich sowohl bei bilateralen Gesprächen mit der türkischen Regierung als auch im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen, der OSZE und im Europarat für das demokratische Grundrecht auf freie Meinungsäußerung einsetze. In welcher Form und mit welchem Nachdruck dies allerdings geschieht, ist leider für die Öffentlichkeit nicht nachzuvollziehen. Bei den offiziellen Erklärungen über die jüngsten Staatsbesuche von deutschen Regierungsvertretern in der Türkei oder umgekehrt, findet der Völkermord – ob so benannt oder umschriebe – keine Erwähnung, auch nicht im März 2010 beim Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkels in der Türkei, wenige Tage, nachdem der türkische Ministerpräsident als Reaktion auf die Genozid-Resolution des schwedischen Parlaments öffentlich verkündet hatte, die jüngste Resolution werde nur den Armeniern selbst schaden, und zugleich drohte, alle illegal in der Türkeilebenden Armenier auszuweisen.[22]
Auf die ebenfalls in der Kleinen Anfrage formulierte Frage, ob die Bundesregierung die Auffassung vertrete, dass es sich bei denMassakern an den Armeniern 1915/16 eindeutig um einen Völkermord im Sinne derUN-Konvention von 1948 handelt, antwortete das Auswärtige Amt mit der schon seit den 1980er Jahren bekannten formelhaften Wendung: „Die Bundesregierung begrüßt alle Initiativen, die der weiteren Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse von 1915/16 dienen. Eine Bewertung dieser Forschungen sollte Wissenschaftlerinnen/Wissenschaftlern vorbehalten bleiben. Dabei ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Aufarbeitung der tragischen Ereignisse von 1915/16 in erster Linie Sache der beiden betroffenen Länder Türkei undArmenien ist.“[23] In diesem Zusammenhang verwies das Auswärtige Amt auch auf die von der Türkei und Armenien gemeinsam unterzeichneten Protokolle vom Oktober 2009, die auch die Einrichtung einer Historikerkommission beinhalten. Die Bundesregierung verharrt also weiterhin, die Ergebnisse der historischen Forschung ignorierend, in ihrer seit Jahrzehnten geübten Praxis, sich hinter den Historikern zu verstecken.
Es bleibt also nur ein ernüchterndes Fazit zuziehen: Seit 2005 ist kein wesentlicher Fortschritt in der Haltung der öffentlichen Vertreter Deutschlands zu erkennen. Der Beschluss des Deutschen Bundestages erscheint in der Nachschau doch nicht mehr gewesen zu sein als ein dem 90. Jahrestag geschuldetes politisches Lippenbekenntnis, das zudem so formuliert war, das es die Armenier erfreute, den Türken aber nicht allzu sehr wehtat. Uns Deutschen, das haben die Parlamentarier zu Recht so formuliert, berührt das Schicksal der Armenier in besonderer Weise – aufgrund der historischen Verstrickung in das Verbrechen, aufgrund der Bevölkerungssituation in der Bundesrepublik und aufgrund der eigenen Erfahrung mit kollektiver Schuld. Gerade deshalb wird die deutsche Politik auf Dauer den gesicherten Erkenntnissen der Historiker nicht mehr ausweichen können und schließlich zur begrifflichen Genauigkeit bei der Bewertung historischer Fakten gezwungen sein.
[1] Vgl. zur Reaktion auf Giordanos Dokumentation Annette Schaefgen, Schwieriges Erinnern. Der Völkermord an den Armeniern, Berlin 2006, S. 92-96.
[2] So z.B. auch geäußert in einem Brief von Hakki Keskin an ARD-Intendant Peter Boudgoust vom 11.04.2010; vgl. auch den Protestbrief in der Hürriyet vom 14. April 2010 und Stellungnahmen unter: www.turkishpress.de
[3] Erklärung von ARD-Intendant Peter Boudgoust vom 14. April 2010, zitiert nach: http://aghet-1915.tumblr.com/ard-erklaerung
[4] Deutscher Bundestag, Drucksache 15/5689,15. Juni 2006.
[5] AA-PA, B 11, Band 1417, Tgb.-Nr. T 292/55vom 29. Juli 1955, Bericht des Botschafters Haas über seine Reise durch die Osttürkei (4.-24. Juni 1955). Haas geht auch in seinen Lebenserinnerungen in dem Kapitel über seine Zeit als Botschafter in der Türkei nicht auf Armenier ein, er erwähnt auch hier lediglich einige christliche Kirchen im Zusammenhang mit seiner Ostanatolienreise, z. B. S. 301.
[6] AA-PA, B 26, Band 11, 82.01/5, Tgb.-Nr.2372/57 vom 27. August 1957, Bericht des Botschafters Oellers über seine Dienstreise durch die Osttürkei.
[7] AA-PA, B 26, Band 463, Bericht des BotschaftsratsI. Klasse Dr. Wilke über seine Dienstreise nach Nordostanatolien vom23.-28.8.1972, übersandt am 3. Oktober 1972, Pol I A – 81, Ber. NR. 1750.
[8] Die einzige Erwähnung der seit 1965 alljährlich durchgeführten Demonstrationen zum Gedenken an die Opfer des Völkermordes findet sich in dem Bericht eines Generalkonsuls im kanadischen Ottawa aus dem Jahr 1971, der seinen Bericht an das Auswärtige Amt in Bonn mit den Worten einleitet: „Geister derVergangenheit wurden wachgerufen, als am 24. April in Ottawa einige Hundert Armenier vor der türkischen Botschaft eine Kundgebung veranstalteten, um gegen den Völkermord an eineinhalb Millionen Armeniern im Jahr 1915 zu protestieren.“ AA-PA, B 26, Band 465, Bericht der Botschaft Ottawa an das Auswärtige Amt in Bonn vom 3. Mai 1971 über Antitürkische Demonstrationen der Armenier in Ottawa (I A 4 – 81.24; Ber.Nr. 413/71).
[9] Vgl. Mouradian, La mémoire, S. 275. Auch andere nationale Themen wurden in dieser Phase von der armenischen Sowjetregierung stärker in den Vordergrund gestellt: Im September 1989 wurde eine Kommission gebildet, die die Aufhebung des Moskauer und Karser Vertrages von 1921 vorbereiten sollte sowie die Annullierung des Beschlusses, der zur Angliederung Arzachs an Sowjetarserbeidschan geführt hatte. Vgl. Hofmann, Tessa, Annäherung an Armenien, Geschichte und Gegenwart, München 1997, S. 136.
[10] Vgl. Baha Güngör/Manfred Weber/WolframEberhard, Die Volksseele kocht. Der Vorwurf des „Völkermords“ an den Armeniern bringt viele Türken auf die Barrikaden, in: Focus 5/2001.
[11] Vgl. Hierzu ausführlich, Annette Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 104-110.
[12] Vgl. ebenda, S. 138-142.
[13] Frankfurter Rundschau, 6. Februar 2005.
[14] Karen Krüger: Völkermord im Lehrplan. Die armen Schüler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. August 2009
[15] Süddeutsche Zeitung, 22. Oktober 2010.
[16] Vgl. hierzu ausführlich AnnetteS chaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 122-133.
[17] Vgl. ebenda, S. 133.
[18] Taz, 13. Februar 2006.
[19] Der Tagesspiegel, 16., 17., 18. , 20.Juni 2005; Hamburger Abendblatt, 18. Juni 2005; Erklärung des türkischen Außenministeriums zum Beschluss des Deutschen Bundestages (www.tuerkischebotschaft.de)
[20] Deutscher Bundestag, Drucksache 15/5689,15. Juni 2006
[21] Deutscher Bundestag, Drucksache 17/687,10. Februar 2010
[22] Spiegel online 20. März 2010, NZZ, 17.März
[23] Antwort der Bundesregierung vom 23.Februar 2010 auf die Kleine Anfrage Der Fraktion der Linken vom 10.02.2010, Bundestagsdrucksache 17/687.